Personalisiertes Lernen in SPERLE

                               TU Darmstadt, AB Technikdidaktik – Arbeitspapier aus 03/2022: Tenberg, R., Backes, T.

Prämissen Personalisierten Lernens

 

Kernelement des InnoVet-Projekts SPERLE ist die Idee, Personalisiertes berufliches Lernen mit Hilfedigitaler Technologien weiterzuentwickeln. Mit Personalisierung werden hierbei die vielfältigen Möglichkeiten lernbezogener Individualisierung fokussiert. Im Idealfall werden beruflich Lernende genau dort abgeholt, wo sie jeweils stehen, können eigene Lernwege in eigenen Lern-
geschwindigkeiten gehen, genau dann, wenn sie wollen oder können und genau dort, wo es für sie gerade passt. Durch vielfältige Aktivierungsansätze, Motivierungselemente und Medienangebote fühlt
sich jeder einzelne Lernende angesprochen und unterstützt. Es versteht sich von selbst, dass dies in herkömmlichen beruflichen Lern-Szenarien nur bedingt und mit deutlichen Abstrichen möglich ist. Die Implementierung von E-Learning hat jedoch in den zurückliegenden Jahren gezeigt, dass mit digitalen
Technologien Lernprozesse besser personalisiert werden können. Aktuell werden Lern-Management-Systeme (learning management systems) (LMS) im beruflichen Unterricht erprobt und vereinzelt implementiert. Hinzu kommen erste Versuche mit Lernprozess-Analyse-Anordnungen (learning analytics) und automatisierten Lern-Rückmeldungen (responsive learning). SPERLE versucht, die seit Jahrzehnten verfolgten Ideen individualisierten beruflichen Lernens weiterzubringen, indem es den Zusammenhang zwischen den Grenzen und Barrieren dieses Lernparadigmas und den Möglichkeiten
aktueller digitaler Technologien an berufliche Schulen vermittelt.

               Abbildung 1: Schriftgrafik Prämissen Personalisierten Lernens in SPERLE

Ursprünge – Woher kommt die Idee Personalisierten Lernens?

Abbildung 2: Schriftgrafik Ursprünge des Personalisierten Lernens

Aus pädagogischer Perspektive liegt der Ursprung Personalisierten Lernens in den Ideen der Reform-pädagogen, zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Diese Gegenbewegung zur damaligen Paukschule war zentral auf das Kind als eigenständiges und einzigartiges Individuum ausgerichtet. Um dessen individuelle Entwicklung zu ermöglichen, waren Lernkonzepte erforderlich, die dem Gießkannenprinzip eines frontalen Klassenunterrichts widersprachen. Insbesondere der Ansatz von Maria Montessori setzte das hierbei zentrale Individualisierungsprinzip konsequent um. Die Kinder
können in diesem Unterricht selbst auswählen, was sie wann erarbeiten und lernen. Lehrpersonen wirken hier nur bedingt instruierend, ihre Rolle ist überwiegend betreuend und unterstützend. Nach dem II. Weltkrieg etablierte sich auch aus Effizienzgründen in Deutschland zunächst eine Schule mit traditionellem Klassenunterricht. Mit den großen Bildungsentwicklungen in den 1960er- und 1970er-Jahren wurden jedoch die Ideen und Erfolge der Reformpädagogik wiederentdeckt und seitdem versucht, diese in unser Bildungssystem zu implementieren.

Die spätestens seit den 1970er-Jahren weltweit expandierende Lehr-Lernforschung suchte und sucht
nach empirisch nachweisbaren Zusammenhängen des Lernens mit Personenvariablen,
Kontextvariablen und insbesondere mit Lehrmethoden. In unzähligen Studien wurde hierbei auch
selbstgesteuertes, selbstorganisiertes, schülerorientiertes oder individualisiertes Lernen untersucht.
Dabei gab es viele Befunde, die den reformpädagogischen Grundansatz unterstützen, aber auch
Befunde, die ihn in Frage stellten. Relativ sicher nachgewiesen wurde hierbei z.B., dass Lernende um
so weniger von selbstorganisiertem Lernen profitieren, je schwächer diese sind, was einem „Matthäus-
Effekt“ der Schülerorientierung entspricht, denn von ihr profitieren die Lernenden am meisten, die sie
am wenigsten benötigen würden. Gelöst wird dieses Problem nur dort erfolgreich, wo die persönliche
Zuwendung der Lehrpersonen zu den Lernenden erhöht bzw. verstärkt werden kann. Zudem wurde in
multiplen Meta-Analysen (Studie von Hattie & Timperley, 2013) nachgewiesen, dass kaum etwas
lernwirksamer ist, als eine gezielte und sachliche Lern-Rückmeldung. Damit wird deutlich, dass man
mit den Ideen der Reformpädagogen in einem heutigen Unterricht nur weiterkommen kann, wenn
man entweder mehr Lehrpersonen für weniger Lernende zur Verfügung stellt, oder wenn man in der
Lage ist, das individuelle Feedback zu verbessern.


Seit der Reformpädagogik hat sich die Schülerschaft im beruflichen Lernsegment mehrfach verändert.
Damals handelte es sich noch überwiegend um Jugendliche aus sozial schwächeren
Gesellschaftsschichten mit einem relativ begrenzten Bildungsstand und Weltbild, die eine Existenz
jenseits der Unsicherheit und Belastung ungelernter Arbeit anstrebten. Heute stehen wir einer äußerst
heterogenen Gesamtkohorte gegenüber, sowohl im Hinblick auf deren Grundbildung und
Weltwahrnehmung als auch auf deren Ziele und Aspirationen. Dies erschwert nicht nur die Zielfindung
für berufliche Lernprozesse, sondern insbesondere deren methodisches Arrangement, vor allem
bezogen auf den Grundanspruch einer Individualisierung. In dieser multiplen Heterogenität kann
Personalisierung nicht mehr eine Option für einen schöneren oder besseren Unterricht sein, sondern
wird zur Grundbedingung für dessen Gelingen. Als „gute Nachricht“ kann hier jedoch festgestellt
werden, dass die aktuelle Generation beruflich Lernender die Präsenz und allgegenwärtige
Implementierung digitaler Technologien in ihr Leben als feststehende Tatsache akzeptiert hat, dass sie
den fortlaufend entwickelnden oder neuen digitalen Features relativ offen und positiv gegenübersteht.

 

Mit der Multimedia-Entwicklung der Computer in den 1990er-Jahren und deren Vernetzung und
Übergang in mobile Endgeräte ab den 2000er-Jahren wurden auch die Lern- und Bildungswelten
sukzessive digitalisiert. Dieser - im Gegensatz zur technischen und gesellschaftlichen Digitalisierung -
relativ langsame Prozess verläuft aktuell immer noch zeitversetzt und durchaus konfliktär, denn
Technologien werden nach wie vor von vielen Protagonist*innen unseres Bildungssystems entweder
gemieden bzw. fehlverstanden oder gegenüber deren Ideen und Zielen von Bildung als inkongruent
wahrgenommen. Die Gesamt-Energie der umfassenden Digitalisierung aller Lebensbereiche hat jedoch
inzwischen ein Ausmaß erreicht, das die bestehenden Hemmungen zunehmend löst. Vor allem in
technologienahen beruflichen Segmenten wurden daher zunehmend digitale Lernwelten geschaffen
und implementiert, welche die reformpädagogische Idee der Individualisierung in neuer Form
aufleben lassen und mit neuen Mitteln handhaben, was wiederum die Chance signalisiert, dass so die
bestehenden Grenzen und Barrieren dieses Paradigmas mit digitalen Technologien überschritten
werden können

 

Ansatzpunkte für die Umsetzung Personalisierten Lernens

 

Aus Perspektive der Lehrenden geht es darum, Individualisierung nun weiterzudenken, also die hier
aktuell wahrnehmbaren Barrieren bzw. Grenzen zu identifizieren und in Frage zu stellen. Sie sollten
dabei vor allem das Feedback als Motor des Lernens fokussieren und – darauf bezogen – die
Möglichkeiten digitaler Technologien in ihren Lern-Umgebungen systematisch erschließen und
erproben. Personalisiertes Lernen wird von ihnen dann implementiert, wenn sie individualisierungs-
bezogen ihre bisher überwiegend analoge Lehre in digitale Lehre transformieren.
Ein Unterricht, der Personalisiertes Lernen umsetzt, sollte so angeordnet sein, dass weitgehend
selbstreguliert gelernt werden kann. Er ist räumlich-zeitlich offen und hält adäquate Spielräume bzgl.
der Ausgangspunkte, Lernwege und –Geschwindigkeiten bereit.
Für die Lernenden selbst bedeutet Personalisiertes Lernen zwar eine verstärkte Zuwendung zu ihnen
als Individuum, gleichzeitig adressiert es aber ihre Selbstreflexivität und Eigenverantwortlichkeit im
Lernen mit dem Anspruch, sich mit den eigenen Lernkompetenzen konstruktiv auseinanderzusetzen
und diese weiterzuentwickeln.
Wenn sich Bildungsinstitutionen in didaktisch-methodischer Perspektive weiterentwickeln wollen,
betrifft dies sowohl die Entwicklung des pädagogischen Personals als auch dessen Ressourcen. Im Falle
von Personalisiertem Lernen geht es also darum, digitale Technologien zu implementieren, was deren
einschlägige und nachhaltige Bereitstellung sowie Support betrifft, aber auch entsprechende
Fortbildungen und Unterstützung für innovative Lehrpersonen und Lehrpersonen-Teams.

 

Abbildung 3: Schriftgrafik Personalisiertes Lernen in SPERLE: Prämissen, Ursprünge und Ansatzpunkte

 

 

 

 

Personalisiertes Lernen in SPERLE - Das Arbeitspapier von Prof. Dr. Ralf Tenberg und Tim Backes hier zum Download